Schreibtechnik

Missverständnisse

Vor einiger Zeit war eine Freundin bei mir zu Besuch und sah das Whiteboard an meiner Wand, an dem ich unter anderem die Stationen der Heldenreise nach Campbell angepinnt habe. Ich erklärte ihr, was sie da sah, und sie meinte: Das klingt genau wie „Herr der Ringe“.
Sie hatte natürlich recht. Aber das Bemerkenswerte daran ist nicht, dass Tolkien in seinem Buch diese Elemente verwendet hat, sondern dass er das Buch geschrieben hat, noch bevor Campbell die Heldenreise so ausformuliert hat. Umgekehrt kannte auch Campbell Tolkiens Lord of the Rings nicht, der war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht veröffentlicht.
Wie kann das dann sein, dass beide von dieser Plotstruktur wussten?
Ganz einfach: Schreibregeln, Erzähltechniken und Plotsysteme sind nichts, was sich die Autoren von Schreibratgebern ausgedacht haben, um junge Autoren zu quälen, sondern entstanden aus der Analyse von unzähligen Geschichten „die funktionieren“. Das sind Geschichten von Naturvölkern am Lagerfeuer, Sagen aus der antiken Mythologie, es betrifft die komplette Literaturgeschichte von anno dunnemals bis heute und macht auch vor millionenschweren Actionfilmen aus Hollywood nicht halt.
Campbell beschrieb die Regeln der Heldenreise, indem er Sagen aus der griechischen Mythologie wissenschaftlich analysierte und veröffentlichte sie in seinem Buch „The Hero with a Thousand Faces“. Und J.R.Tolkien ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, der in seinen Büchern zeigt, dass gute Geschichten immer einem bestimmten Schema folgen, einfach weil sie dann .
Genauso ist es mit allen anderen Schreibregeln auch: Es gibt Dinge, von denen weiß man aus jahrtausendelanger Kulturerfahrung, dass sie die Menschen unterhalten, dass sie gefallen, dass sie Bestand haben, und andere Dinge eben nicht. Ob das jetzt der inflationäre Gebrauch von Wörtern wie „als“ oder „dann“ ist, oder die schlechte Angewohnheit, dem Leser mit einem Übermaß an beschreibenden Adjektiven so etwas wie Mitempfinden vorzugaukeln  –  Schreibregeln sagen, wie es besser geht, und wenn man sie beherrscht, darf man auch gerne mal drauf pfeifen. Aber dann bitte bewusst und mit Absicht, und nicht, weil man es nicht besser weiß.
Eine gute Geschichte wird erst dann zu einem guten Buch, wenn sie auch gut erzählt wird, vergleichbar mit der Musik eines Komponisten, die nur dann gut ist, wenn sie durch einen guten Musiker vorgetragen wird.
Umgekehrt wird kein Buch automatisch ein „gutes“ Buch, nur weil man all diese Schreibregeln verinnerlicht und anwendet. Denn Kunst ist nun mal eine gesunde Mischung aus Talent und Handwerk, und nur wenn sich beides ergänzt und verbindet, kommt am Ende ein Kunstwerk heraus.

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